Was ich nach den beiden Jahren sehr vermisse 

20. Februar 2022

Was ich nach den beiden Jahren sehr vermisse, ist die Kneipe, wie sie einmal war. Die wir spontan besucht haben, nach den Erledigungen des Tages oder zwischen zwei von ihnen, nach dem Samstagseinkauf, mit Papiertüten beladen, aus denen Lauchstangen ragen, an die Theke, ein kleines Bier oder zwei, und reden mit Dahergelaufenen, über die große Welt und die Kleinigkeiten, über den Sturm der letzten Tage, die BVG, die nächsten Konzerte im Schlot, über Russland und die Fahrradstraßen in Pankow. Nachmittagssonne auf ungeputzten Kneipenscheiben, die Bedienung poliert gedankenverloren Gläser und ist noch benebelt vom Vorabend oder schon bekifft, oder beides. Leuten zunicken, die wir vom Sehen kennen, seit Jahren. Ich rauche nicht, aber es sollte geraucht werden, gern neben mir. Mich auf den Stand bringen, plaudern mit denen, die ich nur hier treffe; neuer Job, verreist gewesen, was machen die Kinder und wie viele sind es, guten schlechten Sex gehabt, ich kenne mich mit Fußball nicht aus, höre aber gerne zu, nach dem zweiten Bier Appetit auf mehr, oder auf ein opulentes Mahl zuhause, ein paar Münzen auf den Tisch, ich pack’s mal, und weiter, die Tüten in der Hand. Das ist für mich das größte Glück. Die Pandemie hat uns nicht die engen Freunde, dafür aber die Bekannten geraubt, die zufälligen Begegnungen im Alltag und im öffentlichen Raum. Das nehme ich ihr übel und da bin ich auch nachtragend. 

Werbung

Nicht mächtig, aber stark

10. Januar 2020

DSC03338

Unter dieser Zeile ist das Audio zum Anklicken – Beitrag ist von 2016

Nicht mächtig aber stark

Die Männerbewegung ringt um ein neues Männerbild

Nach Jahrzehnten weiblicher Emanzipation wird es Zeit, die Männer und Jungen zu stärken – das verlangt die deutsche Männerbewegung. Andreas Baum hat einen Männerkongress besucht, war rechtsradikalen Tendenzen auf der Spur und hat mit einem Therapeuten gesprochen.

Gerd Riedmeier: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in 100 Jahren noch eine reine Frauenpolitik geben wird. Der alleinige Blick auf die Bedürfnisse von Frauen, das wird sich in ein paar Jahren überlebt haben.“

Claus John: „Wir leugnen auf keinen Fall die Diskriminierung der Frauen, die ja existiert, aber wir wollen auch dass die Diskriminierung der Männer überhaupt wahrgenommen wird. Und das sehen wir leider nicht in der deutschen Gesellschaft.“

Thomas Hölscher: „Wir haben eine Männerbewegung. Wir brauchen die aber sicherlich anders, als die Frauen. Weil ich denke, dass es ein bisschen merkwürdig klingt, wenn wir für Männerrechte eintreten. Es ist aber sinnvoll, sich für Männlichkeit einzusetzen.“

Moment mal: Männer werden diskriminiert? Und müssen lernen, für ihre Rechte zu kämpfen? In einer Männerbewegung? Dieser Gedanke, ganz ehrlich, ist mir sehr unangenehm.

Claus John: „Wir sind ja eher noch auf der Suche. Die Frauen haben ihre Rolle schon gefunden. Wir müssen aber noch mehr an uns arbeiten. Und wir sind auch meines Erachtens selber schuld, dass unsere Diskriminierung noch nicht so weit gesehen wird. Deswegen haben wir auch diesen Kongress gemacht, dass das auch öffentlich wahrgenommen wird.“

Ein Männerkongress, zu dem auch Frauen gekommen sind

Ein Kongress – von Männern für Männer? Ich bin dreimal gefragt worden, und zwar jedes Mal von Kolleginnen, ob ich eigentlich aus privaten Gründen auf diesen Männerkongress fahre. Und ob ich das eigentlich nötig habe. Oder ob ich glaube, benachteiligt zu sein. Nein, habe ich gesagt: Ich bin doch kein Opfer. Das ist rein beruflich. Ich schau mir das an. Danach erzähl‘ ich was darüber. Im Radio.

Was unterscheidet eigentlich die Männerbewegung von einer Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit? Für Männer und Frauen? Gibt es sie überhaupt, diese Männerbewegung? Und: Was genau ist Männlichkeit? Um darauf Antworten zu finden, bin ich zum sogenannten Genderkongress gefahren. Nach Nürnberg. Ende November. In der Meistersinger-Halle. Pünktlich um neun war ich da.

„So Herr Baum, schaun’s mal. Da ist jetzt jemand da, dann können’s gleich des so anschließen wie sie’s brauchen. – Noch besser – ja – ich hoff, dass passt, ne, ja na klar. – Dankeschön! – Ja. Das ma ein g’scheiten Ton ham …“

Alle auf dem Kongress sind wahnsinnig freundlich zu mir. Kein Wunder: Journalisten drängeln sich nicht gerade darum, dabei zu sein. Es gab Probleme, schon im Vorfeld, und den Vorwurf, hier träfen sich nur gestrige Frauenfeinde und Vertreter eines konservativen Familienbildes. Ein bereits zugesagter Veranstaltungsort wurde wieder abgesagt. Dann wurde doch ein Raum gefunden, in der Meistersinger-Halle, in Nürnberg ist das eine gute Adresse. Vor der Tür steht ein Mann mit Knopf im Ohr: Security. Für alle Fälle. Für mich ist ein Platz reserviert, ganz vorn, mit Namensschildchen -– aber ich setze mich lieber nach hinten– und versuche, nicht aufzufallen. Dann geht’s los.

„Ja, liebe Engagierte. Sehr verehrte Teilnehmer und Mitwirkende. Ich heiße Sie sehr herzlich zum deutschen Genderkongress in Nürnberg willkommen. Mein Name ist Andreas Kraußer. Ich bin Vertreter einer der teilnehmenden Vereine. Dazu später mehr. Besonders begrüße ich die Vertreter aus der Politik und den Medien. Und vor allem begrüße ich die vielen Frauen sehr herzlich, die mit ihrer Präsenz alleine schon ihre Empathie auch für Männer ausdrücken.“

Plötzlich ertappe ich mich dabei, erleichtert zu sein, weil ich höre, dass auch Frauen da sind. Ich drehe mich um. Tatsächlich: 200 Männer, und, ich schätze mal, 40 Frauen. Sogar ein paar Kinder sehe ich. Andreas Kraußer:

„Dieser Kongress versteht sich zwar…“

Zwischenrufe: Näher ans Mikro!

Genau: Lauter sprechen. Sichtbar werden, hörbar werden. Das gehört ja wohl dazu, zur Emanzipation. Also, Andreas Kraußer, gleich nochmal:

„Dieser Kongress versteht sich zwar als Fortführung des Väterkongresses 2013 in Karlsruhe. Er erweitert jedoch das Themenspektrum. Es geht heute um den Diskurs über die gesamte geschlechter- und familienpolitische Palette hinweg.“

Das beruhigt mich ungemein. Es ist also doch kein reiner Männerkongress. Ich lerne allerdings: Der Kern der deutschen Männerbewegung ist die Väterbewegung – Männer, die nach der Trennung von ihren Familien um ihre Kinder kämpfen müssen. Claus John:

„Ich habe das Väternetzwerk in der Region Nürnberg gegründet, vor zwei Jahren. Und wir setzen uns ein in erster Linie für getrennte Väter, die nach der Trennung ihre Kinder kaum noch sehen können, diskriminiert werden von Jugendämtern und von Familiengerichten, für uns ist es schon die Diskriminierung, wenn über 90 Prozent der Kinder nach einer Trennung immer noch zu den Müttern gehen, also die Rechte dort die Mütter bekommen und die Väter außen vor sind.“

Nach der Trennung fühlen sich viele Väter auf Hilfe angewiesen

Zu Claus John kommen Männer, wenn es eigentlich zu spät ist. Wenn die Kinder bereits entzogen und entfremdet sind, wenn das Geld für Anwälte und Unterhaltszahlungen aufgebraucht ist, wenn die Väter kein Licht mehr sehen am Ende des Tunnels. Ihr Eingeständnis, hilfebedürftig zu sein, ist auch eine Kapitulation. Und öffnet sie für neue Ideen – für manche zum ersten Mal in ihrem Leben.

„Wir wollen kein Väterbild der 50er Jahre oder noch weiter zurück, wir wollen aktive Väter, so sehen wir uns auch. Dass wir auch fähig sind und wichtig sind, Kinder zu erziehen, das wird uns ja wissenschaftlich schon seit vielen Jahren belegt, dass wir nicht emotionale Krüppel sind und dass wir durchaus schon zu Kleinkindern schon emotionale Bindungen, genauso wie Mütter aufbauen können. Das ist unsere Arbeit. Und eben ablegen dieses: wir sind nur Männer, wenn wir viel verdienen, ein tolles Auto haben, ein Haus vorlegen.“

Männer, die klaglos arbeiten gehen, sich den Kindern entfremden lassen und mit ihrer Karriere zufrieden geben, sind Claus John zufolge also schon heute ein Relikt der Vergangenheit.

Wenn sie nur nicht so spät um Hilfe bitten würden. Die Funktionäre der Männerbewegung sähen die Väter am liebsten noch viel früher in den Beratungsstellen. Am besten kämen sie, bevor sie Väter werden. Das aber tun sie nicht. Andreas Kraußer:

„Und das ist auch insofern ein Problem, als diese Männer erst aktiv werden, die gesellschaftliche Schieflage erst wahrnehmen, wenn bei ihnen selbst das Dach brennt.“

Andreas Kraußer von „Manndat“, einer, wie sie sich selbst nennt, überparteilichen und unabhängigen Interessenvertretung für Männer und Jungen. Männer, sagt er, und da klingt er wie die Feministinnen der siebziger Jahre, sind zu bequem.

„Vorher glauben sie noch, unangreifbar zu sein, oder glauben fälschlicherweise, es sei alles was die Geschlechter anbetrifft und im Familienrecht im Großen und Ganzen in Ordnung. Dann die schmutzige Scheidung, Frau zieht aus, Wohnung ist leergeräumt, Kinder sind verschwunden, Unterhaltsklage. Dann fallen sie aus allen Wolken, das kann doch nicht angehen, und  dann laufen bei uns die E-Mail-Postfächer über und aus dem Fax quellen Scheidungsurteile, womit wir gar nichts anfangen können. Also was wir eher bräuchten und was wie eher anstreben, ist ein gleichmäßiges politisches Engagement, das nicht so sehr von persönlichen Erlebnissen geprägt ist.“

Das also ist es: Raus aus der Opferrolle, nicht immer nur auf den eigenen Bauchnabel schauen. Sich als modernes politisches Wesen verstehen: Klingt für mich sehr nach Frauenbewegung.

„Die Menschen zur Freiheit bringen, das heißt, sie zum miteinander reden bringen.“

Der da jetzt redet, und gerade den Philosophen Karl Jaspers zitiert hat, ist Gerd Riedmeier, der erste Vorsitzende des Forums Soziale Inklusion. Kein Männerverband, das ist ihm wichtig, sondern einer für alle. Wir blicken auf die Bedürfnisse von Mädchen, von Frauen, von Müttern, sagt Riedmeier. Aber eben auch auf die Bedürfnisse von Jungen, Männern und Vätern.

„Das ist das worüber ich mich freue, dass wir miteinander reden können. Nicht so wie wenn draußen vor der Tür irgendwie skandaliert wird, sondern dass man zuhören kann, miteinander reden kann.“

Wie bitte? Vor der Tür ist was los? Ausschreitungen, während ich hier ahnungslos sitze und mitschneide? Tatsächlich. Ich also nichts wie raus, ins Foyer. Da vorne steht, neben dem Security-Mann, Klaus Jürgen Bär, ein Nürnberger Lokalpolitiker – der Linkspartei. Es ist aber offenbar schon alles vorbei. Stehtische sind umgeworfen, Papiere liegen auf dem Boden.

„Ich bin Andreas Baum Deutschlandradio Kultur, Hallo. – Hallo – ich mache einen Beitrag über diese Veranstaltung. Ich wollte Sie fragen, Sie haben doch gerade hier mitbekommen, die Protestierer, ob Sie mir kurz schildern können, was da vorgefallen ist?

„Es gab nur eine Gruppe von jungen Menschen, hauptsächlich Frauen, die gerne am Kongress teilgenommen hätten. Aber sie wollten sich nicht registrieren lassen, haben dann sich nochmal beraten, schlussendlich sind sie dann rausgegangen, haben die Tische abgeräumt.“

„Also, die haben hier diese Blätter von den Tischen geschoben?“

„Richtig, ja, runtergeschoben!“

Die Störerinnen und Störer, zehn Frauen und zwei Männer, hatten den Kongress für eine Versammlung von Reaktionären und Frauenfeinden gehalten – als sie freundlich gebeten wurden, sich zu namentlich einzutragen und offiziell mitzumachen, warfen sie zwei Infotische um und zogen ab. Damit hat sich der Protest erst einmal erledigt.

Ab 13 Uhr isst der Kongress: Nudeln mit Schinken oder vegetarischen Lauch-Kartoffel-Auflauf. Viele kennen sich von alten Kämpfen, der Termin in Nürnberg ist auch eine Art Klassentreffen der Männerbewegung.

Friedrich-Ebert-Stiftung ist skeptisch

Aber was genau wird denn nun an der Männerbewegung kritisiert? Stimmt es denn, dass sie konservativ ist, gar frauenfeindlich? Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt über sie:

„Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat vor allem im deutschsprachigen Raum eine antifeministische Bewegung von sich Reden gemacht. Diese Szene wirft einem vermeintlich omnipräsenten „Staatsfeminismus“ vor, Männer und Männlichkeit zu unterdrücken. Sie schließt an die Väterrechtsbewegung an, ist aber deutlich ideologisierter und stärker in der rechten Szene bzw. Ideologie verankert.“

Ich kann übrigens, seit ich auf dem Genderkongress bin, diese Kritik gut verstehen. Tatsächlich ist da zum Beispiel dieser kleine aufgeregte Mann mit dem AfD-Sticker am Revers, der blaue Flugblätter verteilt, auf denen gegen „Gender-Wahn“ protestiert wird. Der mich Journalist erkennt und mir gleich vorwirft, mein Sender betreibe „Gender-Mainstreaming.“

Es gibt einen Teil der Männerbewegung, der nicht zum Kongress in Nürnberg gekommen ist. Das Bundesforum Männer, ein Verband, der vom Bundesfamilienministerium finanziert wird – aber auf seine Unabhängigkeit pocht: Ob nun das Bundesforum nicht eingeladen war oder trotz Einladung nicht gekommen ist – da gibt es widersprüchliche Darstellungen.

„Guten Tag, mein Name ist Baum.“ –

„Hallo, Schölper mein Name, haben Sie‘s gut gefunden?“

Dag Schölper vom Bundesforum Männer – ist ein Mann. Und ich habe für einen kurzen Moment gedacht, dass ich es mit einer Frau zu tun habe, weil Dag klingt, wie die Kurzform von Dagmar.

„Tatsächlich ist diese Verwechslung, ist es jetzt ein Mann oder eine Frau auch manchmal hilfreich. Bei unserem Themenfeld ist das ganz schön, dass das nicht so ganz klar ist. Das öffnet manchmal Türen. Gerade in Kooperation auch mit Frauenorganisationen hat das schon mal geholfen: Ach so, ja, stimmt, Sie sind ein Mann und war trotzdem ganz ok was Sie geschrieben haben.“

Bundesforum warnt vor rechtsradikalen Tendenzen

In Nürnberg bin ich vor dem Bundesforum Männer gewarnt worden. Dag Schölper und die Seinen seien quasi bezahlte Büttel der Bundesregierung. Deshalb frage ich Dag Schölper rundheraus, ob es wirklich Versuche der Rechten und Reaktionären gibt, die Männerbewegung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?

„Ja, unbedingt. Also es gibt diese Instrumentalisierung einer traditionellen Männlichkeitsvorstellung, ganz klar zu beobachten in Reihen der AfD, die sehr stark auf ein eher archaisches, kämpferisches Männlichkeitsbild setzt, und davon grenzen wir uns natürlich ab und sehen da schon Verschränkungen mit rechtskonservativen oder bis hin auch zu rechtspopulistischen Bestrebungen, die uns überhaupt nicht gefallen.“

Mit denen aber, und kaum ein Punkt ist mir so klar gemacht worden wie dieser, will man bei den Veranstaltern des Genderkongresses in Nürnberg nichts zu tun haben. Alle distanzieren sich, angefangen bei Gerd Riedmeier.

„Die ganze Geschlechterdebatte ist aus dem Ruder gelaufen. Sie erscheint nur noch ideologisiert, es wird nicht mehr miteinander gesprochen, sondern es werden Feindbilder aufgebaut. es wird nicht miteinander gesprochen und auf die Inhalte wird gar nicht geschaut.“

Und dann ist da noch der Journalist und Buchautor Arne Hoffmann, vielleicht einer der umstrittensten Teilnehmer des Genderkongresses. Sein Buch „Not am Mann – Sexismus gegen Männer“ gilt als Standardwerk der radikaleren unter den bewegten Männern. Aus dem Inhaltsverzeichnis:

–        Der Mann als ökonomischer Verlierer.

–        Die Folgen der Jungenkrise.

–        Die vielen Facetten der Männerdiskriminierung.

–        Sexuelle Gewalt gegen Männer.

–        Wer sich für Männer einsetzt wird ausgegrenzt.

„Ich persönlich… eine starke Abgrenzung von mir gegen Rechtsradikalismus hat in meinen Büchern und auf meinem Blog usw. immer stattgefunden. Und bei ‚Manndat‘ findet es vielleicht nicht explizit statt, aber implizit selbstverständlich, wenn ‚Manndat‘ sich für Migrantenjungen einsetzt, wenn ‚Manndat‘ das Tagebuch eines Totalverweigerers, der Mitglied der Linkspartei ist, veröffentlicht auf seiner Website, und ich denke spätestens, wenn die all diese Verknüpfungen sehen, merken doch die radikal Rechten sowieso, dass die uns nicht ins Boot holen können, weil wir eben so breit aufgestellt sind.“

Wenn es um die Radikalen in den eigenen Reihen geht, erinnern Männerrechtler immer gern an die Sturm- und-Drang-Jahre der Frauenbewegung – als auch unter Feministinnen mit harten Bandagen gekämpft wurde –  und verweisen auf eine Fernsehdiskussion von Alice Schwarzer und der deutsch-argentinischen Buchautorin Esther Vilar aus dem Jahr 1975. Esther Vilar hatte es gewagt, für einen „weiblichen Feminismus“ zu plädieren. Was Alice Schwarzer auf die Palme brachte.

„Wenn Sie in Ihren Büchern das Wort ‚Frau‘ ersetzen würden durch das Wort ‚Jude‘ oder ‚Neger‘, dann wären Ihre Schriften reif für den ‚Stürmer‘.“

„Reden Sie nicht so einen wahnsinnigen Unsinn!“

„Sie sind nicht nur Sexistin, Sie sind auch Faschistin!“

„Ich finde, Ihr Argument ist ein typisch faschistisches Argument, so haben nämlich die Faschisten argumentiert damals, mit solchen Wörtern.“

Wir sind uns einig: auch damals ist Manches aus dem Ruder gelaufen. Es gab Pamphlete, in Paris und New York, die Unerhörtes empfahlen.

„Die haben zum Teil völlig absurde Forderungen gestellt, wie das männliche Geschlecht auf zehn Prozent runterzufahren.“

Ist ja gut, Arne Hoffmann. Diese Texte waren extrem. Sie waren aber nicht als Handlungsanweisung gedacht. Sondern als eine Art sehr extremer Satire. Aber gut, wir haben verstanden: Soziale Bewegungen sind am Anfang ihrer Geschichte wie Teenager: Sie lärmen, sie nerven, schmollen und flippen manchmal aus. Heute übrigens liegen Esther Vilar und Alice Schwarzer in ihren Büchern gar nicht mehr so weit auseinander. Und obwohl Dag Schölper mit seinem sozialdemokratisch unterstützten Bundesforum Männer und Arne Hoffmann, Gerd Riedmeier und Andreas Kraußer im Moment nicht miteinander reden: Was sie sagen, wirkt wie voneinander abgeschrieben. Nur dass es bei Dag Schölper angenehmer klingt.

„Schaut man in den Bereich Gesundheit, dann ist klar: Die Lebenserwartung von Männern ist niedriger. Da hilft kein zynisches Lächeln, naja das ist halt so, sondern dann kann man gucken, was sind eigentlich die Ursachen dafür. Und dann guckt man auf den Arbeitsbereich und stellt fest, dass überlange Vollzeiten bei Männern sehr weit verbreitet sind. Männer wollen ihre Arbeitszeiten gern im Durchschnitt reduzieren, insbesondere wenn sie in Verantwortung für kleine Kinder oder Pflege sind. Und sie tun sich schwer: Die Kulturen und die Strukturen scheinen so zu sein, dass dies verhindert wird. Und Frauen beklagen sich, dass es so schwer ist, ihre kurzen Teilzeiten auszuweiten auf ‘ne mittlere Teilzeit oder vollzeitnahe Beschäftigung. Und da ist ein enger Zusammenhang.“

Viele Paare und ihre Kinder betreiben Familien-Jonglage

Das hört sich so wunderbar harmonisch an, als wäre das Problem bereits gelöst. Geschlechtergerechtigkeit durch gerechte Teilung. Geht das überhaupt?

Ich besuche Anja Boehnke und Holger Schramm in ihrer Berlin-Kreuzberger Altbauwohnung. Zwei Kinder im Kita- und Schulalter, Anja ist Pädagogin, Holger Heilpraktiker:

„Ich steh gern als erster auf, weil ich hab gern meine Ruhe am Morgen nochmal, so einen kurzen Moment. Das ist ganz schön, dann schlafen alle noch, dann kann ich den Frühstückstisch vorbereiten. Frühstück machen, wenn ich Zeit hab, vielleicht noch einen Tee schlürfen. Und geht’s halt los, dann kommen die Kinder, und Anja. Und dann ist es erst mal ziemlich betriebsam.“

Da haben wir die Tage relativ klar aufgeteilt. Ich arbeite jeden Tag die Zeit, wo die Kinder im Kinderladen sind, von halb neun bis drei. Wenn ich dann die Kinder abhole, dann fahre ich um drei von der Arbeit los und hol die Kinder, und wenn ich die nicht habe, wenn Holger beide holt, oder meine Mutter holt immer eine Woche den einen oder den anderen, dann hat immer einer frei, weil der andere ja nur einen holen braucht, dann arbeite ich so lange, dass wir uns hier zum Abendessen treffen.“

Klassischer Fall von Familien-Jonglage – und funktioniert vielleicht nur deshalb, weil Anja und Holger in einer ziemlich perfekten Welt leben: Sie in der Universität, er in der alternativen Medizin, beide in ihrer ‚Kreuzberger Blase‘. Und eine Großmutter in der Nähe. Nehmen wir sie einfach als Vorreiter einer neuen Bewegung, von Männern und Frauen, die sich ihre Leben aufteilen, gerecht und sinnvoll.

„Das war auch mein Anspruch, auch, dass wir uns auch die Erziehungsarbeit und die Elternzeit auch vor allem, teilen, damit ich auch genug Bindung zu den Kindern habe. Damit ich auch selbständig mit ihnen Zeit verbringen kann, einfach Kind quäkt, alle lachen.“

Das ist Lara. Lara ist sechs Monate alt. Im Moment bleibt ihr Vater Erhan Uyanik mit ihr zu Hause. Am Anfang, als noch gestillt wurde, blieb die Mutter Anette Weise zu Hause. Lara ist das zweite Kind, die beiden haben sich die vom Staat gewährte Elternzeit aufgeteilt, sehr gerecht: Jeder sieben Monate. Erhan ist IT-Fachmann, Anette Coach.

„Was interessant war, war immer die Reaktion auf die Länge der Elternzeit, weil ich halt auch, in Anführungszeichen, ‚nur‘ sieben Monate gemacht habe. Da hieß es bei mir immer: Was, Du machst nur sieben Monate? Und Erhan hat auch sieben Monate gemacht, da hieß es immer: ‚Was, Du machst so lange Elternzeit?‘ Also, das fand ich halt eher lustig. Und im Beruf, da habe ich auch in einem Unternehmen gearbeitet, wo viele Männer und Frauen aus dem ehemaligen Osten sind. Die sind da anders drauf. Sehr viel emanzipierter.“

Klingt alles in allem sehr perfekt. Und ich höre schon die Widerworte, diese Paare mit ihren Kindern, das sind ja nur Ausnahmen, Kreuzberg, Uni, Leute aus den Medien, Freiberufler. Du hast mal wieder nur in deiner heilen Welt recherchiert. Für die meisten Männer und Frauen ist das eine Utopie.

Mag sein. Aber mir ging es ja darum zu zeigen, dass es geht. Und Dag Schölper vom Bundesforum Männer sagt: die Männerbewegung ist eine Realität. Sie wird langsam stärker, und es sind sogar Frauen dabei. Sie ist leise, aber unaufhaltsam.

„Junge Männer machen in Verhandlungen um einen Arbeitsvertrag deutlich: Wir wollen nicht ein riesengroßes Einkommen und einen Dienstwagen und eine Vorzimmerdame, sondern sie wollen Vereinbarkeit mit der Familie. Da hat sich massiv was geändert. Das heißt, ohne dass da eine politische Bewegung im Sinne der Frauenbewegung mit Plakaten, Demonstrationen auf der Straße, öffentlichen Büstenhalter-Verbrennungen, um das Klischee zu dreschen, das findet in der Form so nicht statt, sondern es findet eine soziale Bewegung statt, die jetzt aber eher alltagspragmatisch stattfindet.“

Das könnte doch jetzt das Schlusswort sein. So harmonisch. So ausgeglichen! Also, ich wäre durch mit dem Feature. Meinetwegen wäre hier das Ende

Wäre da nicht mein Gefühl, dass ich, um der Sache auf den Grund zu gehen, nochmal ganz von vorne anfangen muss: In der Kindheit. Bei den Jungen. Dort nämlich, da sind sich fast alle Männerrechtler einig, liegt das eigentliche Problem. Am Anfang der Mannwerdung.

„Mein Name ist Thomas Hölscher. Jahrgang 59, ich bin Leiter und Träger der therapeutischen Lebensgemeinschaft ‚Haus Narnia‘. Das ist eine Facheinrichtung für Jungenarbeit, Gewaltpädagogik und Traumatherapie,“

Zu Thomas Hölscher kommen die richtig schweren Jungs: Schläger, Räuber, Vergewaltiger, zwischen zwölf und 20 Jahren – aber auch notorische Schulschwänzer. 30 Mitarbeiter für elf Insassen. Es gibt einen Insassen, einen so genannten Intensivtäter, der rund um die Uhr betreut werden muss. Er allein bindet sieben Mitarbeiter.

„Ja, ich sitze hier im schönen Kiel, Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein und hoffe, mit Ihnen, Herr Baum, ein Interview zu führen.“

Moment. Zwei Sätze noch: Sobald die Jungen bei Thomas Hölscher in der Einrichtung sind, hören die Gewaltausbrüche auf. Irgendwas scheint er richtig zu machen.

Also, ich denke, dass wir auf die Menschen so zugehen, wie ich jetzt auf Sie zugehe. Nämlich offen und zugewandt. Freundlich, interessiert, nicht bestimmend, das ist ein wesentlicher Teil des Konzeptes, dass man die Menschen nicht vorverurteilt, sondern auf sie zugeht, als ob sie vollkommen normal sind.“

Mit Thomas Hölscher möchte ich über das reden, was man in der Männerszene das Jungendilemma nennt. Denn die Straftaten seiner Klienten sind nur der sichtbare Teil eines riesigen Eisbergs unter der Wasseroberfläche: Jungen werden, so heißt es, in der Schule nicht jungengerecht behandelt. Mädchen haben einen Mädchenbonus, Jungen einen Malus:

„Zum Beispiel, wenn man ein Referat hält, ein Junge der schüchtern vor der Klasse steht, und Schwierigkeiten hat, sich offen zu äußern, der wird eben gleich schlechter bewertet, als ein Mädchen, was sich dann ziert, da akzeptiert man viel eher, dass die schüchtern sind und zurückhaltend sind.“

„Jungen werden geschlechtssensibler erzogen“

So haben Pädagogen bereits in den neunziger Jahren versucht, Mädchen zu fördern, indem Naturwissenschaften wieder getrennt von den Jungen unterrichtet wurden. Mit dem Ergebnis, dass die Leistungen der Mädchen nicht stiegen, die der Jungen aber wohl: Weil sie, sagt Hölscher, dazu angehalten werden, auf Mädchen Rücksicht zu nehmen. Außerdem müssen Jungen immer still sitzen, trotz des erwiesenermaßen größeren Explorationsdrangs. Eigentlich sind das keine Neuigkeiten. Wo also ist das Problem?

„Ja, das ist eine sehr spannende Frage. Da kann man sich eigentlich nur den Mund bei verbrennen, wenn man das als Mann formuliert.“

Diesen Satz höre ich ziemlich häufig, seit ich in der  Männerbewegung recherchiere.

„Ich glaube, dass es daran liegt, dass Jungen, wie ich es gerne formuliere, geschlechtssensibler erzogen werden, das heißt, Jungen werden ja im Wesentlichen von Müttern und von Frauen erzogen, und da wird darauf Wert gelegt, dass sie mädchen- und frauengerechter groß werden, das heißt ein Junge wächst mit einer Geschlechtssensibilität auf, die ein Mädchen so nicht anerzogen bekommt.“

Wir sind, sagt Hölscher, in Deutschland und Europa seit Generationen mit schwierigen Vätern groß geworden. Durch die Kriegsgenerationen, durch tote, gewalttätige, traumatisierte und entwertete Väter gab es kaum Möglichkeiten, sich positiv männlich zu identifizieren.

„In meiner Generation gibt es unzählige Männer, die gehört haben von ihrer Mutter: ‚Werd‘ nur ja nicht wie Dein Vater!“ Das ist interessanterweise immer noch ein Spruch, mit dem Jungen groß werden.“

Die Last der Vergangenheit spüren wir, bis heute. Auch diejenigen tun das, die von den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihren Vorfahren gar nichts mehr wissen. Aber das ist nur die eine Seite. Denn es gibt eine Lösung, sagt Thomas Hölscher:

„Das, was Männer fasziniert, ist, wenn man sie zusammenbringt und wenn man miteinander wirklich anfängt zu reden.“

Das erinnert mich, ehrlich gesagt‘ an meinen letzten reinen Männerurlaub. Ich und zwei Freunde in Österreich: Skifahren, Skatspielen, Bier trinken. Skifahren, Skatspielen, Bier trinken. Keine überflüssigen Gespräche. Fünf Tage lang. Ich fand’s super.

„Mehr haben Sie nicht gemacht?“ – „Nee, mehr haben wir nicht gemacht.“ – „Das ist bei mir genau andersrum. Ich hab ne Doppelkopfrunde, und ich muss dann ab und zu dafür sorgen, dass wir wieder Doppelkopf spielen.“

Weil alle mit Thomas Hölscher, dem Profi, über ihre echten Anliegen sprechen wollen. Es liegt also an uns, den Raum, den wir mit anderen Männern haben, zu öffnen, für echte Gespräche.

Gespräch unter Männern als Kern der Männerbewegung

Ich wüsste gar nicht so genau, wie das geht, Männer zum Reden zu bringen. Thomas Hölscher sagt, ich soll von mir selbst sprechen, offen und ehrlich. In einem Schonraum, der sicher ist, ohne Frauen und ohne Konkurrenz. Dann fangen die anderen ganz von selbst an zu reden.

„Das klingt jetzt unheimlich einfach, ist aber nicht so einfach. Es geht da wirklich um Selbstoffenbarung.“

Das kann man wohl sagen. Dass Männer mit Männern über ihre Bedürfnisse reden, haben die meisten von uns nicht gelernt. Dabei ist das Gespräch unter Männern der Kern der Männerbewegung. Und auch wenn der Weg noch weit ist: Die ersten Schritte sind getan. Thomas Hölscher:

„Also, ich denke, wir haben eine Männerbewegung. Wir brauchen die aber sicherlich anders, als die Frauen. Weil ich denke, dass es ein bisschen merkwürdig klingt, wenn wir für Männerrechte eintreten. Es ist aber sinnvoll, sich für Männlichkeit einzusetzen.“

„Ja aber, was ist das, Männlichkeit?“

„Ja, gute Frage. Das werde ich auch immer wieder gefragt.“

„Das hätte vielleicht meine erste Frage sein müssen. Aber jetzt ist es die letzte.“

„Ja, was ist Männlichkeit? Dazu sage ich immer, alles was an mir ist, ist männlich. Ich habe aus meiner Sicht keine weiblichen Anteile. Und das ist etwas, was ich in den letzten Jahren begriffen habe. Alles ist männlich, ich bin durch und durch männlich. Meine Fürsorglichkeit ist männlich, meine Liebesfähigkeit ist männlich, und da möchte ich nicht, dass das in irgendeiner Form mir abgesprochen wird oder dass gesagt wird: Das sind deine weiblichen Anteile.“

 

Mit Podcasts die eigene Bibliothek bereichern

21. Oktober 2019

Nicola Messinghage äußert sich sehr freundlich zu unserem Bücherpodcast: „Dieser Podcast erlaubt sich, was viele Podcast-Expert*innen als no-go bezeichnen: Er erscheint unregelmäßig, relativ selten (und) ist länger als ein Inlandflug“

InKladde

Seit etwa einem Jahr sammele ich Podcasts über Bücher in meinen Playlists. Um mir einen Überblick zu verschaffen habe ich anfangs in jeden hineingehört, der mir begegnet ist – ein Projekt, das ich aufgegeben habe, weil es inzwischen zu viele Literatur-Podcasts gibt. Ich höre die Podcasts auch deshalb, weil ich selbst viel zu selten Bücher lese. Vielleser*innen mögen darüber mitleidig lächeln. Als könnte das ein Ersatz sein. Und das ist es natürlich auch nicht.

Menschen zuzuhören, die in Podcasts über Bücher sprechen, das ist ein wenig, wie im Restaurant dem Gespräch am Nebentisch zu lauschen. Der Psychoanalytiker und Autor Pierre Bayard hat einen guten Begriff dafür gefunden, was passiert, wenn man sich über Bücher unterhält: Es wächst der „Reichtum der virtuellen Bibliothek“. Bayard erklärt das in seinem Buch „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“. Das habe ich noch nicht gelesen, sondern im Deutschlandfunk davon gehört.

Podcast…

Ursprünglichen Post anzeigen 2.015 weitere Wörter

Schreiben in Zeiten postkolonialen Selbstbewusstseins

6. Juli 2019

Kenia ist ein Land, in dem soziale, kulturelle und ökonomische Gegensätze aufeinandertreffen, nebeneinander leben, sich gegenseitig beeinflussen. Es gibt in Kenia, besonders in seiner Hauptstadt Nairobi, moderne und westliche Lebensweisen, aber auch traditionelle und sehr ursprüngliche Vorstellungen, die in einer Familie, nicht selten in einer Person – nicht immer friedlich – koexistieren. Diese Widersprüche prägen auch die aktuelle kenianische Literatur auf inhaltliche wie formale Weise.

Es ist eine Gesellschaft zwischen Emanzipation und Brautpreis – so zeigt sie sich in den Erzählungen feministischer Autorinnen Joan Thatia oder Muthoni Wa Gichuru. Vergangenheit und Gegenwart existieren nebeneinander: Die Kolonialzeit scheint nicht wirklich vorbei, sie ist nicht einmal vergangen, wie es Peter Kimani sagt. Er ist seit seinem in London publizierten „Dance of the Jakaranda“ international als Schriftsteller erfolgreich. Kimani veröffentlicht in den USA und Großbritannien. Er gilt als wichtiger Schüler des wohl bekanntesten kenianischen Autors Ngugi wa Thiong’o, der heute im US-amerikanischen Exil lebt, nachdem er in Kenia verfolgt wurde. Obwohl das Ende der Kolonialzeit 55 Jahre her ist, sieht Kimani ihre Kräfte in der kenianischen Gesellschaft fortwirken.

„Ich denke, wir bleiben ein koloniales Konstrukt“, sagt Peter Kimani. Ich rede mit Ihnen gerade nicht auf Kiswahili – das ist meine Sprache – oder auf Kikuyu, sondern auf Englisch. Das Erbe der Kolonialzeit ist sehr präsent im Alltag der Kenianer. Auf eine Art sind wir immer noch Untertanen des Empire.“

Die Großstadt Nairobi, sagt Kimani, ist bis heute nach Ethnien geordnet – ein Überbleibsel der britischen Kolonialzeit.

Anteile von zehn Sprachen in einem Roman

In Kimanis auf Englisch geschriebenem „Dance of the Jakaranda“ finden sich Anteile von zehn Sprachen. Die Vielsprachigkeit ist mittlerweile ein Kennzeichen der Literatur Kenias. Typisch für den hier entstehenden Nairobi Style ist eine Mischung aus Englisch – der dominierenden kenianischen Literatursprache – mit alltagssprachlichen Anteilen aus Kiswahili, Kikuyu, dem Arabischen, Hindi, Luo, Kisi und vielen anderen lokalen Sprachen. Der typische Kenianer spricht mindestens drei Sprachen, seine lokale, die lingua franca Kisuaheli und Englisch. So ergibt sich in der kenianischen Literatur ein Sound aus vielen Klängen.

Lange haben die kenianischen Autoren versucht, britisches Englisch zu schreiben und wurden nicht gelesen, sagt die Jugendbuchautorin Muthoni Wa Gichuru. Erst seit sie den Mut haben, so zu schreiben, wie ihre Wirklichkeit klingt – früher hätte man gesagt: dem Volk aufs Maul zu schauen – hat der Nairobi Style Erfolg.

„Dadurch, dass wir Wörter auf Kikuyu oder Luo einstreuen, wird der Text zu etwas unverwechselbar Kenianischem“, sagt Gichuru. „Das ist etwas ganz anderes als das britische Queen’s English – das ist einfach nur kalt und trocken.“
Lokale Sprachen zu benutzen, sogar ganz in ihnen zu schreiben, wie es Kenias Literatur-Star Ngugi wa Thiong’o auf Kikuyu getan hat, gilt als politisch, als Zeichen wachsenden kulturellen und postkolonialen Selbstbewusstseins.

Die Themen der Nairobi-Literatur sind modern und gleichzeitig traditionell. In vielen, im Großstadtsmog entstehenden Geschichten hallt eine Erinnerung an das Leben im Dorf wieder. Alte Mythen treffen auf den Alltag in der Metropole, afrikanische Götter auf Großstadtbewohner. Viele Menschen, die im rasant wachsenden Nairobi leben, sind aus der Provinz zugewandert. Geschichten entstehen im täglichen Verkehrschaos Nairobis, in den Slums wie in den bürgerlichen, gut bewachten Vororten. Den Massai begegnet man heute am Zeitungskiosk und jeder Sammeltaxi-Fahrer kann sich als orientalischer Erzähler entpuppen, während viele junge Kenianer sich von den Ketten der traditionellen afrikanischen Familienvorstellungen lösen wollen.

Kenianische Verleger drucken nur Preisträger

Die allermeisten kenianischen Autoren sind self publisher. Gedruckt von kenianischen Verlagen oder gar von internationalen werden nur solche, die Aufmerksamkeit erregen, indem sie Preise gewinnen – nationale, besser internationale. Bei Muthoni Wa Gichuru ist das der Fall gewesen – sie gewann den Jomo Kenyatta Prize –, auch bei Peter Kimani und Makena Onjerika. Sie wurde bekannt, weil sie mit einer Story den in London vergebenen Caine-Prize for African Writing gewann und es dadurch bis ins deutsche Fernsehen zu Dennis Scheck geschafft hat. Der Weg in die Buchhandlungen Nairobis führt leider immer noch durch die Jurys und Verlage in London und New York.

Aber es gibt Ausnahmen wie Tony Mochama, der in Kenia zehn Bücher veröffentlicht hat, Romane und Sachbücher, und so in seiner Heimat ein Star-Autor geworden ist. Sein neuestes Buch ist ein im Jahr 2061 spielender Science-Fiction-Roman – in einem zugleich utopischen und dystopischen Nairobi. Auch Tony Mochama glaubt an einen Nairobi-Style, der sich hier täglich neu erfindet:

„Es gibt ein Nairobi-Feeling, das die Leute in ihren Texten einfangen wollen. Es hat etwas von den Matatus, den typischen Sammeltaxis, in denen Nairobis Bewohner einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen. Der Verkehr spielt eine große Rolle, aber auch die urbane Landschaft und die Korruption. Die ist hier typisch und sie kommt von ganz oben.“

Von einer lupenreinen Demokratie ist Kenia weit entfernt, aber heute landen Schriftsteller für ihre kritischen Texte nicht mehr hinter Gittern. Unter Daniel Arap Moi wurde Ngugi wa Thiong’o noch wegen eines Romans verhaftet, gefoltert und musste schließlich das Land verlassen. Jetzt wird über Feminismus, Gewalt, Korruption, Rassismus, Emanzipation und Gleichberechtigung geschrieben. Aber immer noch brauchen die meisten Autoren einen Zweitjob, um über die Runden zu kommen. Tony Mochama arbeitet zum Beispiel als Journalist für die Zeitung „The Nation“.

Lange haben die kenianischen Autoren versucht, britisches Englisch zu schreiben und wurden nicht gelesen. Das änderte sich, seit der „Sound“ in Büchern klingt wie die Sprache auf der Straße.

(Zuerst veröffentlicht als Reisebericht bei Deutschlandfunk Kultur)

Die besprochenen Bücher:

Peter Kimani: „Dance of the Jakaranda“
Telegram, London, 2018

Tony Mochama: „Last Mile Bet, Afro-futuristic long novel“
Oxford University Press, 2018

Muthoni wa Gichuru: „Breaking The Silence“
Ebook, Nairobi 2011

Ngugi wa Thiong’o: „Herr der Krähen“
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
A1 Verlag, München 2011

Offenlegung: Andreas Baum war Ende Februar als Autor zu Gast beim Goethe-Institut in Nairobi. Dort las er aus seinem Roman und nahm als Gast an mehreren Workshops teil.

Der wahre Wert der Möhre. Solidarische Landwirtschaft in Berlin Gatow

8. September 2017

Vor acht Jahren gab es in ganz Deutschland nur zwei solidarische Landwirtschaftsbetriebe, heute sind es mehr als hundert. Grundgedanke ist, Lebensmittel in Gemeinschaft zu produzieren. Das heißt auch: harte Arbeit auf dem Feld. Ein Beispiel aus Berlin-Gatow.

„Ja, man nimmt die Pflanze, gibt ihr diese Dämme und in die pflanzt man die ein und dann gibt’s diese Schnüre, da muss man die Pflanzen dann vorsichtig festbinden, damit die dann auch hochwachsen. Und es ist ziemlich warm hier drin.“

Draußen dagegen: Temperaturen kaum über fünf Grad – es ist eines der kältesten Frühjahre, die es je gab. Für die, die hier im Schutz der weißen Plastikplanen auf den Knien rutschen und Setzlinge in die Erde stecken, kein Problem.

„Ich bin Leonie Umbach und pflanze Paprikas ein und danach gleich noch Chillis hier im Gewächshaus.“

Heute, am Samstag, sind die Teilnehmer da. Sie arbeiten mit, ähnlich wie Saisonarbeiter: Nur dass ihnen die Ernte schon zur Zeit der Aussaat gehört. Sie haben sie mit ihrem Beitrag gekauft.

„Beim Paprika-Pflanzen muss man erst mal das Gewebeband, was jetzt keine Plastikfolie ist, wie beim Spargel, sondern ein mehrjährig verwendbares Gewebeband, das muss man erstmal ein bisschen einschneiden, dann wird die Paprika da reingepflanzt, und das hat halt den Vorteil, dass a) das Unkraut nicht hochkommt, und dass die Feuchtigkeit gehalten wird und dann wächst das Ganze viel schneller und besser.“

Mit einem kurzen Messer schneidet Leonie Umbach ein Loch in die Folie …

„So, die stopf ich dann jetzt da rein. In das Loch, das ich vorher da drin gebuddelt hab. Zack. Und dann steht die da und in ein paar Wochen ist die dann bei mir in der Gemüsekiste.“

Die Kiste: Sie kommt viermal im Monat ins Haus. Mit dem, was die Teilnehmer der solidarischen Landwirtschaft Speisegut selbst gepflanzt, gegossen, gejätet und am Ende geerntet haben. Hier in Gatow, einem Dorf im Berliner Stadtgebiet, jenseits von Havel und Wannsee, bestimmten die Felder und das Gewächshaus des gemeinschaftlich betriebenen Hofes das Ortsbild.

„Wie die meisten hier sind wir Teil dieser solidarischen Landwirtschaft Speisegut.“

Landwirtschaft kann auch romantisch sein

Insbesondere, wenn die Teilnehmer gebeugt an ihren Beeten stehen, erinnert das Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert, als Landwirtschaft noch ein romantisches Bild abgab.

„Das ist ja so organisiert, dass wir in den Depots in der Stadt unser Gemüse einmal die Woche abholen, aber eben auch hier mithelfen, mitmachen, mitentscheiden auch. Genau …“

Solidarische Landwirtschaft: Für die Teilnehmer am Speisegut in Gatow bedeutet das: 70 Euro im Monat kostet das Recht an der Gemüsekiste – damit verbunden ist die Pflicht mitzuhelfen, an mindestens drei Tagen im Jahr – angeleitet von Christian Heymann, dem Initiator des Projekts. Er ist professioneller Landwirt. Viele kommen öfter, als sie müssen – wie Leonie Umbach.

„Je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr kriegt man einfach auch mit, was eben alles nicht läuft, auch bei den großen Biosupermärkten. Und hier weiß ich eben, wo das Gemüse herkommt, wen ich unterstütze und was ich umgehen kann.“

Denn den Preis für ganzjährig billiges Gemüse in unseren Supermärkten zahlen andere: Auf den Plantagen Südspaniens, einem gigantischen Plastikmeer, das vom Weltraum aus zu sehen ist, werden Immigranten radikal ausgebeutet, für 20 Euro am Tag oder weniger.

„Also ich hab jetzt die Pflanzkörbe von draußen reingebracht, damit die Maus nicht wieder rangeht. Weil da war ne Maus und die hat sich die Samen rausgeholt.“

Die meisten Hobbybauern haben Schreibtischjobs

Mungo Yang ist Sozialwissenschaftler. Während er die Schubkarre auf engen Wegen vom Feld ins Gewächshaus balanciert, spielt sein kleiner Sohn in einer Pfütze. Auch Mungo Yangs Mutter ist dabei, um auf den Enkel aufzupassen. Wissenschaftler, Theaterleute, Architekten, Tourismusmanager, Sozialarbeiterinnen – die meisten hier haben Schreibtischjobs.

„Also ich bin seit einem Jahr dabei, jetzt hier zum dritten Mal im Arbeitseinsatz. Ich find das total unterstützenswert, dass man hier auch sieht, wo die Ernte her kommt, dass es einfach regional ist. Näher an zu Hause kann es jetzt nicht sein.“

Selbst für den, der in Berlins Innenstadt lebt: Mehr als 20 Kilometer von der Wohnung bis zur Lauchernte sind es selten. Kaum ein Produkt, das sich regional nennt, kann das bieten. Solidarische Landwirtschaft bedeutet aber auch: All dies in Gemeinschaft tun.

„Wir sind auch ne ganz nette Gruppe. Nachher wird ne kleine Pause gemacht. Also es macht einfach Spaß.“

„Das macht irgendwie den Kopf frei, Und die Gemeinschaft ist auch nett. Also man lernt immer nette Leute kennen. Denen es auch Spaß macht.“

Gemeinschaftssinn ist wichtig

Gemeinschaftssinn ist den Teilnehmern wichtig: Nach der Kartoffelernte wird ein Fest gefeiert, man isst zusammen, verabredet und hilft sich: Durch die solidarische Landwirtschaft entstehen Netzwerke in der ganzen Stadt, die weit über die Feldarbeit hinaus gehen.

Gemeinsam statt einsam: Bei der solidarischen Landwirtschaft wird zusammen im Gewächshaus geackert (Deutschlandradio / Andreas Baum)Gemeinsam statt einsam: Bei der solidarischen Landwirtschaft wird zusammen im Gewächshaus geackert (Deutschlandradio / Andreas Baum)

Der Mann, der das Projekt ins Leben gerufen hat, ist Christian Heymann. An bestimmten Wochentagen ist er in dem kleinen Laden an der Dorfstraße anzutreffen. Es regnet. Heymann ist Landwirt seit 20 Jahren, Initiator von Speisegut und Lebensmittelhändler in Personalunion.

„Unser kleiner Regionalladen. Gibt’s jetzt hier drei Jahre. Die Idee ist hier gar nicht, 100 % Bio zu verkaufen. Sondern wirklich die regionalen Sachen. Aber wenn man sich umguckt, wird man sehen, dass wir hier, ich würd sagen zu 99.9 % tatsächlich Biosachen haben. Das ergibt sich einfach.“

Obst- und Gemüsesäfte, Honig, eigener und solcher anderer Imker, kleine Manufakturprodukte, Marmeladen, Sirup. Bis zur Decke stapelt sich in Kisten das Gemüse: Kartoffeln, Kohl und Lauch von den eigenen Feldern. Aber nicht nur das.

„Da hab ich eben Alkohol gesehen!“

„Ja. Das ist Berliner Brandstifter. Das ist wirklich ein feines Getränk.“

Gin, Wodka und Korn, versetzt mit Blütenextrakten und Kräutern, biologisch. Man kennt die Schnäpse, sagt Heymann, in den guten Bars von Kreuzberg bis New York.

„Wurst gibt’s natürlich auch. Vom Wildschwein, das hier im Dorf läuft.“

„Das heißt, das Schwein wird hier im Dorf erlegt?“

„Genau. Es wird hier in den Rieselfeldern beziehungsweise auf unseren Flächen erlegt. Und wir verarbeiten das dann zum Teil, in Leberwurst oder Mettwurst, genau.“

Nachts pirscht ein Jäger über den Acker

Schwer zu glauben, aber wahr: Nachts pirscht ein Jäger über Heymanns solidarisch betriebene Flächen und schießt. Aber auch die Lämmer der hiesigen Schafherde landen, schonend gepökelt oder im Rauch gereift, in Wurstpellen und Gläsern im Geschäft. Milch zapft sich, wer seine Kanne mitbringt, selbst.

„Jeder, der ein Startup gründet oder macht, weiß nie, ob es funktioniert oder nicht. Natürlich: Essen muss jeder. Das Bewusstsein nach gutem Essen wächst. Mit einem Konzept zu kommen, das noch nicht wahnsinnig weit verbreitet ist, ist es ganz klar, dass man Erfolg haben kann. Bei Lebensmitteln ist das sehr sichtbar. Nur dass wir ein Naturprodukt haben. Es ist die dreckige Kartoffel, nicht die dreckige, die erdige Kartoffel, Es ist die Möhre, die noch krumm ist, die ich nicht im Supermarkt finde oder die Tomate, die eine Nase hat. Damit muss der Verbraucher sich auseinandersetzen, der Kunde, der Teilnehmer, wie wir sie nennen.“

Der Laden läuft, weil es Stammkunden gibt, die Brot, Eier und Salat kaufen, auch im Winter. Heymann legt Wert darauf, dass all dies ohne Subventionen funktioniert – auch dies ein Grundprinzip der solidarischen Landwirtschaft.

„Den wahren Wert der Möhre kann ich nur darstellen, indem ich nicht staatliche Unterstützung erhalte, jetzt sind wir im 5. Jahr und ich hoffe, dass es noch viele weitere Jahre so weiter geht.“

Noch gehen die Gatower lieber in den ortseigenen Discounter, direkt nebenan. Hier kostet ein Radieschenbund 70 Cent, im Regionalladen mehr als das Doppelte. Frisch vom Feld zwar, aber die meisten Anwohner honorieren das nicht. Speisegut ist von seinen Teilnehmern abhängig.

„Die Idee der solidarischen Landwirtschaft ist, dass man sich verpflichtet, ein Jahr die Ernte des Bauern abzunehmen.“

Der Bauer bekommt eine Abnahm-Garantie

Es gibt fast so viele Konzepte solidarischer Landwirtschaft, wie Höfe, die sie betreiben, in Deutschland mehr als hundert. Manche Teilnehmer gewähren ihren Betrieben Kredite und machen sie unabhängig den Banken. Alle aber geben dem Bauer die Garantie, ihm die so Ernte abzunehmen, wie sie ist – zu einem vorher vereinbarten Preis.

In welchem Maß sie auf dem Feld mithelfen müssen, entscheidet der Landwirt, der als Fachmann die professionellen Entscheidungen trifft. Christian Heyman ist das besondere Verhältnis seiner Teilnehmer zum Gemüse wichtig, von dem sie sagen können: Das habe ich unter sengender Sonne geerntet. Oder – wie heute – im Regen.

„Naja, heute. Wir haben im Jahr glücklicherweise selten solche Tage. Wenn es halt so regnerisch ist, dann muss man sich im Gewächshaus beschäftigen. Entweder man muss es aufräumen oder die Tomaten entgeizen. Da werden die Tomatentriebe ausgebrochen, damit die Pflanze mehr Kraft hat und nach oben wachsen kann.“

Am Samstag darauf, wenn die Teilnehmer kommen, scheint die Sonne, Schönwetterwolken am blauen Himmel: Kaiserwetter.

„Das ist ein Kuhtor, dass die das mit der Zunge nicht aufkriegen.“

„Eigentlich ist der Kopf ganz frei. Das ist gut. Ich hab bisher gar nichts gedacht, ganz ehrlich …“

Nicole ist Tänzerin. Auf Heymanns zweitem Feld im Ort, genauso gut mit dem Bus zu erreichen, wird heute Rote Bete ausgesetzt und eingepflanzt – in langen Reihen.

„Wenn man das sieht, wie viel man schafft, also das ist schon schön. Man ist schon stolz, wenn man das sieht. Die Arbeit.“

„Guten Tag! Ihre Hände sind ganz schmutzig. Was haben Sie gemacht?“

„Ja, ich hab eigentlich Handschuhe dabei. Aber meine Tochter, die hat meine Handschuhe geklaut. Dann mach ich das von Hand. Find ich auch eigentlich schön so.“

Stadtkinder lernen, wo ihr Essen herkommt

Das ist ein weiteres, gutes Argument für die solidarische Landwirtschaft. Stadtkinder lernen und begreifen, wo ihr Essen herkommt.

„Kartoffel ausbuddeln, das macht denen Spaß. Und die Johannisbeeren abpflücken. Aber sonst sind die eher, wundern sich halt, das was wächst, aber jetzt so begeistert dabei, bei der Gartenarbeit, noch nicht, aber das kann ja noch kommen.“

Und am Ende kann die solidarische Landwirtschaft von Gatow auf ihre Teilnehmer sogar heilsam wirken.

„Ich arbeite im IT-Sektor, also die ganze Zeit am Schreibtisch und das ist halt eine ganz schöne Alternative. Und ich sage immer: so ne Stunde auf dem Feld, eine Stunde Gartenarbeit ersetzt eine Stunde beim Therapeuten. Ich hab keinen Therapeuten, aber die Erde hier ist, sozusagen… Da werden die Therapeuten arbeitslos. Wenn‘s alle machen würden, vielleicht schon.“

„Dann wünsch ich viel Glück, weiterhin.“

„Dankeschön.“

„Viel Erfolg. Und viel Spaß.“

(Autor und Reporter: Andreas Baum. Zuerst veröffentlicht als Radioreportage bei Deutschlandfunk Kultur)

Jambo Bwana Siegen is a Shithole

20. Juni 2014

2014-02-16 17.27.49-1
Meine Freunde lachen immer, wenn sie hören, dass ich am Ende in Siegen gelandet bin.

Aufgewachsen ist Frau M., die studierte Önologin, bei Kapstadt, zwischen Weingütern. Der Mann Deutscher zwar, aber französisch erzogen, das Kind eines EU-Beamten, eine Jugend zwischen den Großstädten der Welt.

Ich könnte umschulen auf Bier, sagt sie, weil das zumindest gibt es hier. Krombacher ist ja schon ein Name.

Geht das, von Wein auf Bier?

Das ist schwer.

Irgendwie ist alles schwer in Siegen.

Vor allem der Verkehr: Um Großstadt zu werden, hat man mehrere Dutzend kleiner Dörfer zusammengefasst. Hat aber nicht funktioniert, zum Großstadtstatus fehlen immer noch ein paar hundert Menschen, weshalb dies genau genommen eine riesige, monströs überformte Kleinstadt ist. Die Mitte ein öder Ort, giftige Grundstücke, die Überreste der Stahlverhüttung. Drumherum die Wohnhäuser. Detroit in Westfalen.

1945 hat in Siegen nur noch jedes siebte Haus gestanden. Die Bomben der Engländer in die engen Täler hinein. Dennoch hat der Krieg die Stadt nicht zerstören können. Es war die Globalisierung, die ihr den Rest gegeben hat. Stahl wird heute in China gekocht, und die Trostgelder fließen vor allem ins Ruhrgebiet, weil da die Probleme noch größer sind.

Die Kinder können nicht mit dem Fahrrad fahren, sagt Frau M., wegen der Berge. Die Busse kommen zu selten und sind immer überfüllt. Mein armer Kleiner, mit der schweren Schultasche und der Bratsche in der Hand in den Bus. Im Vergleich zu Siegen ist Essen ein Traumland: Dort wird Musikunterricht für die Kinder bezuschusst, fast umsonst ist er, der öffentliche Verkehr verfügbar und billig. Dort gibt es zwar auch keine Arbeit. Aber man tut etwas, damit die Leute bleiben. Essen wäre ein Schritt nach vorne.

Frau M.s Mann hat sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag gehangelt, Ingenieur, internationale Projekte, bis die Verträge immer kürzer wurden, so kann man nicht leben, wir wollten eine Familie gründen. Dann das Haus mit dem schönen Wintergarten, der Wald zum Greifen nah. Wir haben nicht lange gezögert.

An den Wänden die Dinge aus Afrika, Stoffe, Masken, Musikinstrumente, Handschmeichler, Kuscheltiere, Trinkgefäße.

Wir sprechen fünf Sprachen, jeden Tag, Englisch, Deutsch, Französisch, Afrikaans und Portugiesisch. Afrikaans ist wie Holländisch. Nur älter.

Wenn ich nach Holland fahre, kann ich mich nach 30 Minuten unterhalten.

Aber Holland ist weit. Weiter noch als Essen.

Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr

24. Februar 2014

Larissas neuer Roman ist erschienen.

Schönhauser Allee

3. Juli 2013

2013-07-02 14.18.45 Kopie

Auf der Höhe der Cantian, wo die Schönhauser so laut donnert wie sie kann, habe ich vor Jahren mal das tragische Ende eines Überfalls beobachtet. Es muss in den frühen Neunzigern gewesen sein. Zwei Bankräuber flohen aus Richtung der Danziger kommend, die damals noch nach Dimitroff hieß, mit einer weißen Plastiktüte, die der eine mit der Faust zusammenkrallte, wie man einen Sack frisch geborener Katzenbabies hält, wenn man sie ersticken will, zwei dünne junge Männer in billigen Jeansanzügen, in ihrem Blick eher Trauer als Angst. Auf dem Dreieck, das entsteht, weil die Cantianstraße in spitzem Winkel auf die Schönhauser stößt, versteckten sie sich unter niedrigen Bodendeckern, Eiben vielleicht oder Kiefern. Ein einziger Polizist verfolgte sie, leicht dicklich, er hielt mit der einen Hand die Dienstmütze fest, mit der anderen seine Pistole an der Hüfte. Er hatte es nicht sonderlich eilig. Gleich mehrere Passanten zeigten ihm, wo sich die Räuber versteckt hatten. Er schaute unter die Büsche und zog nicht einmal jetzt den Revolver. Nach ein paar Minuten hatte er die Diebe gefasst, er führte sie wie zwei dumme Schuljungen ab, ohne Handschellen, widerstandslos. Die beiden haben mir sehr leid getan. Ich habe mich gefragt, wie viele Jahren sie wohl ins Gefängnis mussten für so einen schrecklich schlecht geplanten, wahrscheinlich nach spontanem Entschluss katastrophal unprofessionell durchgeführten Überfall.
Es muss zur gleichen Zeit gewesen sein, als vor dem Supermarkt ein paar Häuser weiter eine junge Frau mit ihrem Kind saß, einfach so, ohne zu betteln, in weiten Kleidern, vielleicht eine Roma, vielleicht auch nicht, und die Kunden empört den Marktleiter auf die Straße holten und von ihm verlangten, die Polizei zu rufen. Der Marktleiter sträubte sich, kratzte sich am Hinterkopf und sah sich die Sache genauer an. Was liegt gegen die Frau denn vor, fragte er die Umstehenden. Nichts, sagte einer er Kunden, das ist es ja gerade.
Heute wird auf dem Dreieck eines der Millionärshäuser gebaut, mit Blick auf den Sportplatz, komplett verkauft vor dem ersten Spatenstich. An dieser Ecke hat sich zumindest optisch noch das grobe Weichbild der neunziger Jahre erhalten, das Stadion, die gelbe Tram, die Hochbahn, die Unaufgeregtheit.
Als ich hier anhalte, um meinen Fahrradreifen aufzupumpen an einer der Luftstationen der Radgeschäfte, höre ich einen Mann sprechen, er ruft in sein Telefon, ich kann ihn nicht sehen, weil er noch zu weit weg ist, aber seine Stimme ist so eindrücklich, sie hat meine ganze Kindheit begleitet, da schimpft einer ins Telefon, der feine Herr Landsberg, ruft er, dann soll der feine Herr Landsberg eben mal seine Post lesen, der feine Herr Landsberg, ist mir doch egal, wenn er nichts mitbekommt – da steht Ilja Richter und telefoniert.
Mit der gleichen Stimme, Licht aus, Spot an, Disko 77, Disko 78, der jugendliche Liebhaber aus den Aufklärungsklamotten, Ilja Richter, und telefoniert mit seinem Anwalt. Mit seinem Bart sieht er in etwa so alt aus, wie er inzwischen sein muss. Als er näher kommt, sieht er, dass ich ihm zuhöre, er hält die Hand vor die Muschel. Ich reagiere so, wie ich immer reagiere, wenn mir im Prenzlauer Berg Prominente begegnen. Ich tue so, als kennte ich sie nicht.

Eine Reise in den Iran

3. Juni 2013

Blade Runner

12. Mai 2013

Future-of-Alexanderplatz-in-Berlin-00

Bei einem der vielen Umzüge, von einer Wohnung, die plötzlich zu klein geworden war, nachdem sie zwischenzeitlich viel zu groß gewesen ist, in eine andere, die nur kurz geräumig genug schien, um dann wieder weit unter ein erträgliches Maß zu schrumpfen, heute aber wieder viel zu groß ist,  fiel mir das Buch wieder in die Hand, das ich Mitte der neunziger Jahre an einem Stand vor der mexikanischen Universität UNAM gekauft hatte – ein Essayband amerikanischer und europäischer Autoren, die sich alle nur mit einem Thema beschäftigen: Dem Film Blade Runner, der ein gutes Jahrzehnt zuvor, nach einem Krieg um die endgültige Fassung, in die Kinos gekommen war, und seitdem rund um die Welt das Denken beeinflusste. Blade Runner hatte, vielleicht ohne es zu wollen, ein  Erdbeben ausgelöst, und die Erschütterung war immer noch gut zu spüren, als ich das Buch fand. Es war, als wäre eine ganze Generation schwer atmend aufgewacht aus einem dieser rätselhaft realistischen Träume am frühen Morgen, um festzustellen, dass der  Mensch, der sich selbst dabei zusieht, wie er nachdenkt über sich,  schon immer man selbst gewesen ist.

Blade Runner ist ein Film über uns und unsere Apparate. Irgendwann im Laufe des 20. Jahrhunderts haben wir verstanden, dass, wenn wir sterben, all die kleinen mechanischen und elektronischen Helfer, die wir uns geschaffen oder angeschafft haben, einfach weiter leben werden – ein mehr als deprimierender Gedanke. Unsere Rechner werden weiter klaglos arbeiten, unser Fernseher wird weiter Elektronen emittieren und schlechte Spiele-Shows, es wird das Internet geben, Datenbrillen und Single Speed Räder, Massagesessel und den Mikrowellengrill. Das Objekt überdauert den Menschen, und  macht ihn damit zum Gespött. Dies umso mehr, wenn Künstler, Wissenschaftler, Architekten und Sterneköche versuchen, das eigene Ich durch Bilder, Formeln, Lampen oder Saucenrezepte ins Unendliche zu verlängern. Nach seinem Tod verhöhnt das Werk seinen Schöpfer, es gleicht einem aufgezogenen trommelnden Affen, der weiter zuckt und weiter trommelt, während der Autor zu Staub zerfällt.

Es klingt beängstigend logisch, dass sich der Schaffende der Zukunft von dieser Paradoxie befreit haben wird und der Krone seiner Schöpfung, dem mechanischen Menschen, ein Verfallsdatum eingebaut hat, nach dem Osram-Prinzip, demzufolge Glühlampen nicht länger brennen dürfen als 1000 Stunden: Nach vier Jahren ist auch die Replik des Menschen am Ende – ob sie will oder nicht, und wie wir schon vor diesem Film geahnt haben, will sie nicht.

Game over, Reklamationen sind zwecklos, ein Update gibt es nicht, damit kann der kreative Mensch niemals zufrieden sein, denn wenn ihm der Automat gelungen ist, ist er ihm ans Herz gewachsen, mal wie ein trauriges Kind, dem man im Restaurant ein Almosen gegeben hat, mal wie ein viel zu junger Lover, von dem wir wissen, dass er nicht zu uns passt, und von dem wir doch nicht lassen können. Die Maschine, die Rick Deckert liebt (ungeachtet der Frage, ob er selbst eine ist), hat kein Ablaufdatum, jedenfalls keines, das bekannt wäre. Sie herzustellen, war illegal, sie zu lieben, ist unverzeihlich, beide müssen fliehen, in ein Land irgendwo da draußen, außerhalb von jeder Ordnung, was bleibt, ist nur das Dilemma: Stirbt sie nicht, ist sie kein Mensch. Stirbt sie doch, bin ich allein. Nie geboren zu sein, wäre daher vielleicht die höchste Gnade. Aber wer will das schon.

Nur wenige wissen, dass es einen Mann gab, der das Problem auf Ebene der Raumbeleuchtung lösen konnte. Dieter Binninger hieß er, ein Uhrmacher, wie der Automatentüftler J.F. Sebastian in Ridley Scotts Film. Er ersann in den siebziger Jahren eine Ewigkeitsglühbirne, mit einer Lebenszeit von 150.000 Stunden, das sind 17 Jahre. Exakt die Hälfte dieser Zeit, also achteinhalb Jahre, nachdem Blade Runner in die Kinos kam, starb Binninger 52jährig,  am 25. März 1991, beim Absturz eines Privatflugzeuges nördlich von Helmstedt. Die Unfallursache wurde nie gefunden. Nur sieben Tage später fand das Leben eines seiner einflussreichen Förderers ein jähes Ende. Detlev Rohwedder, der Chef der Treuhand, wurde am 1. April 1991 von Unbekannten erschossen. Sein Plan, die Ewigkeitsglühbirne auf dem Gebiet der ehemaligen DDR produzieren zu lassen, blieb unverwirklicht.

Ich habe Dinge gesehen, sagt der Replikant Roy Batty, die ihr Menschen nie glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, wie Tränen im Regen: Zeit – zu sterben.


%d Bloggern gefällt das: